Ein Paper schöpfen

Wie eine wissenschaftliche Arbeit im Informatikbüro entsteht

Olufemi Atibioke

"Wir sollten wirklich Werknetz sagen anstatt Netzwerk. Es ist das Werk, die Arbeit und die Bewegung, der Fluß und die Veränderungen, die betont werden sollten." (Latour 2007: 247) 


Wissenschaft ist nicht nur  wie es Max Weber (1974 [1919]) dachte  Beruf(ung), sondern auch Arbeit: Arbeit im Sinne eines Prozesses, in dem etwas entsteht, ein Prozess des Schöpfens, von dem wir mindestens seit den so genannten Laborstudien wissen, dass er an mehr als am "Wille zum Wissen" (Foucault 1977) sich ganz und gar einer Sache verschreibender Wissenschaftler_innen hängt.

 

In besagten Studien (z. B. Bruno Latour/Steve Woolgar 1979) wurde en détail beschrieben, wie Naturwissenschaftler_innen in ihren Laboratorien arbeiten, wie sie mit dem Instrumentarium umgehen, wie sich die Interaktionen zwischen den Forschenden ergeben, welchen Routinen und Ritualen sie unterliegen und ähnliches mehr. Wie vielfältig komplex der Betrieb der Wissens-, Tatsachen- oder Erkenntnisproduktion tatsächlich ist, stellt der viel diskutierte Ansatz der so genannten Aktor-Netzwerk-Theorie (ANT) dar, deren Methodologie an dieser Stelle nur mit dem latourschen Mantra eingeführt werden soll: "beschreiben, schreiben, beschreiben, schreiben" (Latour 2007: 258).

 

Ein-Blick in das Informatikbüro (Foto: Olufemi Atibioke)
Ein-Blick in das Informatikbüro (Foto: Olufemi Atibioke)
...voll von Zu-Taten (Foto: Olufemi Atibioke)
...voll von Zu-Taten (Foto: Olufemi Atibioke)

 

In meiner Forschung gehe ich davon aus, dass ein wissenschaftliches Paper innerhalb des vermeintlich abgeschlossenen Büros aus vielen Zu-Taten entsteht. Dazu stütze ich mich auf das Konzept der Praxeographie, das Michi Knecht (2012) überzeugend zur Erforschung von Prozessen der Wissensproduktion nahegelegt hat. Mit diesem geraten "die Praktiken selbst sowie ihre Konstellationen und 'Gefüge' in den Mittelpunkt [...]  und nicht die Akteure oder sozialen Kollektive, wie das die Ethnographie meist tut" (Knecht 2012: 249). 

 

In dem von mir erforschten Informatikbüro verwebt sich Akademisches, Öffentliches und Privates zu dem, was Knecht in Bezug auf den Modus einer Ethnographie Theorie-Empirie-Nexus nennt. Das Büro "meines" Informatikers Ulrich (Pseudonym) befindet sich auf der 4. Etage in einem so genannten Mehrzweckgebäude auf dem auf den Lahnbergen gelegenen Gelände der Universität Marburg. Einst mit Architekturpreisen für dessen innovative Konstruktionen geehrt, findet derzeit ein gerichtlicher Streit um den oft verlangten Abriss des Gebäudes statt. Es beherbergt auf insgesamt sechs Etagen 32 Mathematik- und Informatik-Professor_innen, deren Mitarbeiter_innen und Doktorand_innen. Ulrichs Büro liegt an der südwestlichen Front des Gebäudes.

 

Die Rollos schützen vor der Nachmittagssonne (Foto: Olufemi Atibioke)
Die Rollos schützen vor der Nachmittagssonne (Foto: Olufemi Atibioke)

 

Wie sehr dieses Gebäude Ort des Akademisch-Öffentlich-Privaten ist, wird einem beim Betreten des Büros vor Augen geführt und soll mit dem folgenden Forschungstagebucheintrag angedeutet werden. 

"Bitte diese Tafel nie wischen"– Forschungstagebucheintrag

 

Der Schlüssel steckt im Schloss, die Tür öffnet sich und der Raum steht vor einem bereit. Ein Schritt nach vorne und man steht im Raum. Und der Arbeitsplatz? Er arbeitet.

 

Die Luft ist stickig. Ulrich legt seinen Rucksack rechts neben einem von zwei Schreibtischen ab und öffnete die schmalen Fenster oberhalb der größeren Fensterfront. Sein Blick wendet sich nach links. Ich folge ihm und sehe eine knapp drei Meter lange grüne Kreidetafel neben der Bürotür, beschrieben mit – was mir später als solche vorgestellt wird – Funktionen der selbstentwickelten Programmiersprache. Die Sprache ist mir fremd, mein Blick bleibt wohl daher an den Worten hängen, die ich lesen kann: "Bitte diese Tafel nie wischen! Danke!" 

 

Funktionselemente in Verbindung (Foto: Olufemi Atibioke)
Funktionselemente in Verbindung (Foto: Olufemi Atibioke)
Tabula plena (Foto: Olufemi Atibioke)
Tabula plena (Foto: Olufemi Atibioke)

 

Ulrich bleibt mehrere Sekunden mit dem Blick auf die Tafel gerichtet stehen. Dann setzt er sich an den Schreibtisch. Zwei Bildschirme (einer davon hochkant ausgerichtet), eine Schreibtischlampe, Unterlagen und Notiz- bzw. Schmierzettel sind auf dem Tisch. Ein zweiter Tisch (beide Tische zusammen formen ein L. ) ist mit weiteren Unterlagen bedeckt, dazu sind neun 0,5-Liter-Matetee-Flaschen, ein Glas mit Honig und eine Kaffeetasse auf dem Tisch.

 

Die nächsten 4 Stunden verbringen wir schweigend. Ulrich hat sich seine Kopfhörer aufgesetzt. Wie aus weiter Entfernung sind dumpfe Hip-Hop-Instrumentals im Raum zu hören. Seine Hände und Augen wandern zwischen dem dazugekommenen Privatlaptop, den beiden Bildschirmen, Unterlagen (Forschungspapiere), seinen Notizen und Skizzen, der Tafel und der immer leerer werdenden Mateteeflasche hin und her.

 

(...)

 

An der Wand ist ein Poster festgeklebt worden. Darauf zu lesen sind Schwerpunkte, Zielsetzungen und Erkenntnisse einer Forschungsgruppe zum Thema Sortierungssysteme.

 

(...)

 

Nach der Mittagspause, die ich wartend und schreibend im Büro verbracht habe, kommt Ulrich mit einem Kollegen in das Büro zurück. Sie unterhalten sich über ein von Ulrich verwendetes Kürzel als Funktionselement und wenden sich fast gleichzeitig der Tafel zu. Ulrichs Kollege lacht kurz auf bei der von Ulrich angebrachten Notiz und fragt: "Ach, bei dir etwa auch? Zum Glück hatte ich meinen Kram noch auf einem Schmierzettel stehen."

Ein vorläufiger Schluss

 

Als "Gastwissenschaftler mit Laien-Status" betrat ich einen Raum, dessen Handlungsläufe mir unbekannt waren – mit Abstrichen sind sie es weiterhin. Daher wurde ich beim Eintritt in das Informatikbüro auch zum "marginal man" (mit diesem Status habe ich noch zu kämpfen). Dazu kommt meine Prägung durch das Studium einer "Interpretativen Ethnologie". Das Synthetisieren durch Beschreiben, um die Beschreibung und das Beschriebene selbst sprechen zu lassen, ist eine bislang schwierige, aber auch spannende Herausforderung.

 

Dem von Latour (2002: 348) eingeforderten Paradigmenwechsel hin zu einer "Anthropologie des Schöpfens", in der die Allmachtstellung "des Menschen" aufgegeben wird, soll in meinem Bericht Rechnung getragen werden. Dafür wird dem Beschreiben der Zu-Taten, welche das Paper entstehen lassen, die primäre Aufmerksamkeit geschenkt: Zu-Taten in allen ihren Formen (Konversationen zwischen Mitarbeiter_innen 'über' dem Paper, die Fensterrollos in der Mittagshitze oder ein unberührtes Honigglas). Im Ergebnis soll sich der_die Leser_in dem Entstehen des Papers in einem deskriptiven Narrativ nähern können.

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• Michel Foucault (1977), Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M.

• Bruno Latour/Steve Woolgar (1979), Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts, Beverly Hills. 

• Bruno Latour (2002), Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 

• Bruno Latour (2007), Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M.

• Michi Knecht (2012), Ethnographische Praxis im Feld der Wissenschafts-, Medizin- und Technikanthroplogie, in: Stefan Beck u. a. (Hgg.), Science and Technology Studies – Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld, S. 245-274.

• Max Weber (1974 [1919]), Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, S. 582-613.