Zur Versammlung Digitaler Nomaden

Melf Nissen

Anfänge

 

Die Beschäftigung mit Digitalen Nomaden – Menschen, die einem mobilen Lebens- und Arbeitsstil nachgehen, der sich durch die Möglichkeiten des mobilen digitalen Arbeitsgerätes und eines drahtlosen weltumspannenden Netzwerks entwickelt hat  schien mir sehr geeignet für eine Forschung zum Thema "Mensch-Ding-Assoziationen am Werk". Entgegen einer Problematisierung Digitaler Nomaden, die um naheliegende Denkfiguren der Arbeitskulturenforschung kreist (Arbeitskraftunternehmer, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit), zielte mein anfängliches Interesse aber darauf ab, der unerwarteten Dinglichkeit (Hardware) der Arbeit Digitaler Nomaden nachzuspüren.

Der Weg zum Feld – zur Versammlung

DNX-Plakat (Scan: Melf Nissen)
DNX-Plakat (Scan: Melf Nissen)

Auf Digitale Nomaden im World Wide Web zu stoßen, ist leicht. Es gibt z. B. nicht wenige Videobeiträge über sie und von ihnen selbst. Der Versuch, Digitale Nomaden offline zu finden und zu erforschen, erwies sich allerdings schwieriger als gedacht. 

 

Ende April 2017 versuchte ich es erstmals in Frankfurt (der Nomad Score Frankfurts beträgt gegenwärtig 3,75 Punkte von möglichen 5), in der Nähe eines Coworking Space. Ich wählte das "Beehive", da es in Bahnhofsnähe liegt, und hoffte, dort vielleicht arbeitende Digitale Nomaden in ihren Pausen in den umliegenden Cafés anzutreffen. Leider erfolglos. 

 

Ich nutzte die Zeit in und vor den Cafés dennoch, um mich im (teilnehmenden) Beobachten zu üben. Für eine unbemerkte Beobachtung des Geschehens, auch aus der Nähe, fand ich für mich heraus, eignet sich ein Smartphone in der Hand. Ironischerweise fühlte sich niemand der Anwesenden bzw. Umstehenden beobachtet oder belauscht: In ihrer Wahrnehmung galt meine ungeteilte Aufmerksamkeit ganz meinem Smartphone, sofern sie mich überhaupt wahrnahmen. Ohne dass jemand durch mein "Mitschreiben" irritiert gewesen wäre, konnte ich zu den Eindrücken von um mich herum sogar Notizen machen.

 

Als nächstes versuchte ich es am Frankfurter Flughafen, der mir als Durchgangsort für Digitale Nomaden vielversprechend schien, um auf sie zu treffen. Ohne gebuchten Flug war es mir jedoch nur gestattet, den Check-in Bereich des Flughafens zu betreten. In diesem sind nicht selten auch Menschen mit Laptop und Smartphone anzutreffen, doch ist das allein natürlich kein Hinweis darauf, dass jemand als Digitaler Nomade lebt. Ich sah einen älteren Herrn mit Laptop, überlegte ob ich ihn anspreche, nahm davon aber Abstand, da er weder vom Alter noch von der Erscheinung her meinem Bild von einem Digitalen Nomaden entsprach.  

 

Ernüchtert von der offline-Forschung machte ich mich online wieder auf die Suche. Auf diesem Weg fand ich auch das, was schließlich der Gegenstand meines Forschungsprojektes werden sollte: eine Versammlung Digitaler Nomaden, genauer gesagt die "DNX: Digitale Nomaden Konferenz" (dnx-berlin.de). Diese kam vom 25. bis zum 27.05.2017 in Berlin zusammen.

 

Mit diesem Fund ging zudem eine Veränderung meines Interesses einher. Während ich in der Konferenz zunächst nur ein Mittel zum Zweck sah, einen Ort, um endlich offline in Kontakt zu Digitalen Nomaden zu kommen, machte ich "die Versammlung" selbst zum Gegenstand meiner Forschung. Das meint zum einen die Konferenz im engeren Sinne, zum anderen die Voraussetzung im Sinne des Interesses für "Mensch-Ding-Assoziationen am Werk". Ich begreife Digitale Nomaden demnach als "assemblages, which certainly include people's 'thoughts' but no less the technologies and other materials with which they continuously engage" (Jensen 2014).

Bei der Versammlung: "Just follow the play"

 

"Want to know the essence of what has come to exist through the actions of humans and non-humans? Join the audience, watch the play and see how the world evolves as a sequence of events, as an effect of interrelations. See how the world develops as a network of interlocking characters and artefacts. Just follow the play." (de Gries 1995)

 

Der Digitalen Nomaden Konferenz wohnte ich großteils als teilnehmender Beobachter bei, hörte und schaute, was um mich herum passierte. Für die kurzen Gelegenheiten in den Pausen von Vorträgen griff ich auf meine im Vorfeld zusammengestellten Fragen zurück, sprach andere Teilnehmende an bzw. kam mit Ihnen ins Gespräch und erklärte gegebenenfalls, was die Beweggründe für meine Fragen sind. Wenn angenommen wurde, dass ich aus Eigeninteresse  soll heißen: als einer der Digitalen Nomaden  dabei war, oder es zu Erklärungen meinerseits gar keine Notwendigkeit gab, fragte ich einfach aus dieser Perspektive weiter.

 

Was das Sammeln von Bild- und Videomaterial anging, verließ ich mich auf die digitale "Gemeinschaft", die ihr Leben zu einem großen Teil dokumentiert und online stellt, um andere daran teilhaben zu lassen. So dachte ich, komme ich am besten an authentisches Bildmaterial davon, woran Digitale Nomaden hängen. Die Unmöglichkeiten, diese Bilder hier eingebettet zu nutzen, bedachte ich damals leider nicht (Stichwort: Bildrechte). Die Lösung im Weiteren: Just follow the hyperlinks! 

 

Ansichten (Just follow the link)
Ansichten (Just follow the link)

Aus der Versammlung 

 

Tag 1, 26. Mai 2017 

 

Meine Feldforschung beginnt morgens 9 Uhr im "betahaus", ein Coworking Space, der in der Prinzessinnenstraße in Berlin/Kreuzberg liegt. Hier finden heute die Registrierung für das am Folgetag startende Main Event und einige Pre-Events statt.

 

In den umliegenden Geschäftshäusern sind Autohändler, Medien- und Kreativschaffende und Softwareunternehmen angesiedelt. Das "betahaus" grenzt an den "Prinzessinnengarten", ein urbanes Gartenprojekt, gegründet von der non-profit Organization "Nomadisch Grün". Die Besonderheit des Projekts liegt darin, dass alles, was dort wächst, in mobile Hochbeete gepflanzt und somit für den gegebenenfalls notwendigen Umzug gewappnet ist – sozusagen eine nomadische Farm der Zukunft.

 

Das "betahaus" selbst ist ein mehrstöckiges Gebäude, in dem es mehrere loftartige Konferenzräume und flexibel zu mietende Büros gibt. Im Erdgeschoss findet sich ein Café, in dem bei meiner Ankunft schon einige Besucher an Tischen sitzen und auf ihre Laptops, Tablets und/oder Smartphones schauen. 

 

Die Registrierung für das Main Event beginnt: Viele der Teilnehmenden sind dem Papierspar-Aufruf auf dem Online-Ticket gefolgt, haben den Ausdruck also bleiben lassen und registrieren sich über das auf ihrem Smartphone gespeicherte Ticket, indem sie einen QR-Code zum Scannen vorzeigen. Mein ermäßigtes Ticket, um Zugang zur Versammlung der Digitalen Nomaden zu erlangen, hat 170 EUR gekostet. Das Willkommenspaket, das mir dafür auch im Zuge der Registrierung überreicht wird, beinhaltet zwei DNX-Sticker, einen Jutebeutel, ein T-Shirt, beides mit dem Motto der Versammlung "I Choose Freedom", einen Timetable, ein Namensschild und einen Gutschein, um anschließend auf das Videopaket zur Konferenz zugreifen zu können.  

 

Zum Abschluss der Registrierung bekomme ich noch ein Eventband, das Passwort für das WLAN im Haus (ichoosefreedom) und schließlich ein High Five angeboten. Damit ist der Eintritt in die Community vollzogen.

 

Ich beschließe, mich im digitalen Netzwerk des Cafés anzumelden und mit aufgeklapptem Laptop in der Nähe der Anmeldung zu bleiben. Nach einiger Zeit im Café ergibt sich mir ein erstes Bild von den anderen Teilnehmenden: Mehrheitlich sind es junge Menschen in ihren Zwanzigern. Sie tragen legere, sommerliche Kleidung. Hier im Café sitzen die meisten, so wie ich, noch für sich allein, haben teilweise Kopfhörer auf den Ohren und sind mit ihren Devices beschäftigt. Viele haben ein Glas Tee oder Kaffee vor sich stehen. Wie ich später, während des Main Events, dank einer von den Veranstaltern angestoßenen Handzeichen-Umfrage erfahren werde, lebt die Mehrzahl der an der DNX Teilnehmenden noch nicht als Digitale Nomaden (in der Versammlung sind sie gleichwohl, im doppelten von mir gemeinten Sinn).

 

Als Teil des Pre-Events finden im Laufe des Tages Vorträge und Workshops im "betahaus" statt: etwa zu traditioneller chinesischer Medizin und Ernährung und zu Mastermind-Gruppen, veranstaltet vom Team "Der Digitale Nomaden Podcast". Das Tagesprogramm wird mit einem Meditationskurs beendet. Alle Vorträge und Kurse erfahren reges Interesse, so dass nicht jeder einen Sitzplatz ergattern kann. Aber auch im "Mindspace" und "juggleHUB", zwei weiteren Berliner Coworking Spaces, werden Vorträge gegeben. Ich entscheide mich dafür, im "betahaus" zu bleiben. 

 

Tag 2, 27. Mai 2017

 

Heute findet das Main Event der Konferenz statt. Der Ort der Versammlung ist der große Aufnahmesaal im "Funkhaus", ehemals Herberge des DDR-Rundfunks. Um 9 Uhr geht es los. Auf dem Weg dahin begegnen mir einige Personen, bei denen ich am schwarzen DNX-Jutebeutel und Konferenz-Lanyard erkenne, dass sie wie ich auf dem Weg zur Versammlung Digitaler Nomaden sind. Dem Augenschein nach nutzen manche von ihnen Navigations-Apps, um zum Ziel zu gelangen. 

 

Im Konferenzsaal haben sich über 800 Personen versammelt und sitzen, vereinzelt auf Stühlen, mehrheitlich auf dem Boden, oder stehen am Rand. Der ansonsten verdunkelte Raum wird durch eine Leinwand auf der Bühne indirekt in bläulich-violettes Licht getaucht. Auf der Leinwand ist eine tropische Wasseroberfläche mit dem Logo der Konferenz zu sehen. An den beiden Seiten hängen große DNX-Werbebanner von der Decke. Auf die Bühne sind mehrere Kameras gerichtet, welche das Event für das Videopaket aufzeichnen. Bis es mit dem ersten Vortrag losgeht, läuft elektronische Musik, etwa der Song Kernkraft 400 der Gruppe Zombie Nation. 

 

Ich sitze am linken Rand des Saales, so dass ich auf der einen Seite das Publikum im Blick habe, auf der anderen aber auch noch die Bühne vor der Leinwand einsehen kann. Beim Hinsetzen werde ich freundlich von meinem Nachbarn begrüßt. Er ist mit seiner Frau zur DNX gekommen, und mit Plänen, sich selbständig zu machen. Zwischen den Vorträgen kommen wir öfter ins Gespräch. Er erklärt, auf der Suche nach neuen Strategien und Geschäftspartnern zu sein. Dass ich nicht des Businesses wegen, sondern aus forscherischem Interesse hier bin, hindert ihn nicht daran, mir seine Visitenkarte zu geben: Es könne ja sein, das ich es mir noch einmal überlege und schaden könne das Verteilen der Karte seiner Meinung nach auch nicht; er habe genügend für die Konferenz dabei.

 

Der Eröffnungsvortrag richtet sich an die Millennials, die Generation Y, welche erstmalig alle Möglichkeiten hätte, bestehende Konventionen zu hacken. Das, was in diesem Vortrag angesprochen wird, ist das fordistische Arbeitssystem, das veraltete Bildungssystem, Ernährungsfragen, besonders Veganismus, das Gesundheitssystem, an dem kritisiert wird, dass es nur Symptome statt Ursachen behandele, Religion wie auch Spiritualität. 

 

Bevor es im Vortragsprogramm weitergeht, wird zum Start in den Tag eine Gruppenmeditation durchgeführt, in der sich die Besucher sowohl mit sich selbst, mit der Erde und mit den anderen Menschen im Raum verbinden sollen. Um die Atmosphäre zu entspannen und den Community-Gedanken der Veranstalter zu unterstützen, gibt es auch bei den weiteren Vorträgen immer wieder interaktive Aktionen. Diese bestehen beispielsweise darin, dem_der Sitznachbar_in und sich selbst motivierende Sätze vorzusagen, wie etwa "Ich gebe heute 100 Prozent", "Ich bin ein weltoffenes Genie aus dem 21. Jahrhundert". Aber auch zu körperlichen, sozusagen übergreifende Übungen wird das Publikum aufgerufen: zu gegenseitigen Rückenmassagen, zum 30-sekündigen Augenkontakt und zum Austausch über gerade anstehende (Business-)Herausforderungen. 

 

Die Vorträge des Tages stehen unter folgenden Überschriften: 

  • Superpower Mindset 2.0: Wie du ein wirklich außergewöhnliches Leben führst

  • 5 Tricks und Tipps wie Du dein Konzept denkst

  • Vom Radiomoderator zum besten Abenteuer Fotografen Deutschlands: Jaworskyj around the world

  • Werde die beste Version von dir selbst: Direkt umsetzbare Hacks die dich und dein Business aufs nächste Level bringen

  • Wie fange ich am besten an? Die besten Learnings beim Start ins Digitale Nomaden Leben

  • DOING LEAN: Das Lean-Mindset für deinen erfolgreichen und schnellen Start ins Online Business

  • Wirklich alles ist möglich! Rund um die Welt mit 6 Kindern und Online Business

  

Als die Crowd zum Ende des Main Events (nach 20 Uhr) aus dem Aufnahmesaal strömt, stehen Host_esses zum rituellen Abklatsch bereit. Der Anfang wird auf der Bühne gemacht. 

 

Tag 3, 28. Mai 2017

 

Am letzten Tag der DNX finden im "betahaus" weitere Workshops statt. Es werden Erfahrungen aus der Praxis des digitalen Wirtschaftens vorgestellt, über den optimalen Umgang mit Wordpress berichtet, davon, wie nebenberuflich ein online-Business gegründet und online-Marketing bestmöglich betrieben werden kann, und Tipps gegeben, wie man für all das brennen kann, ohne zu verbrennen. Einblicke in diese und andere Themen bleiben mir jedoch verwehrt, da mein Ticket nur die Pre-Events und das Main Event umfasst.

 

Deshalb halte ich mich im Meeting-Bereich auf, der auf dem Parkplatz vor dem Gebäude aufgebaut ist. An Stehtisch-Tonnen können sich die (kommenden) Digitalen Nomaden versammeln und sich gegenseitig ihre Projekte vorstellen. Die an den Workshops Teilnehmenden kommen hier auch in den Pausen zusammen. Ich schnappe etwas von Methoden zur "Zielgruppenerreichung" und von Rollen innerhalb der Organisation auf und höre von einem neuen Netzwerk für Veganer und von einem für "Mindgroups" optimierten Chat-Programm. Rege werden Kontaktdaten ausgetauscht und Verabredungen getroffen.

 

An der Seite des Parkplatzes sind viele Fahrräder abgestellt. Ich sehe wenige, die mit dem Auto abreisen. Viele treffe ich in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf dem Weg in ihr Leben jenseits dieser Versammlung Digitaler Nomaden.

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• Caspar Brunn Jensen (2014), Practical Ontologies: Theorizing the Contemporary, Cultural Anthropology website, January 13, abrufbar unter https://culanth.org/fieldsights/466-practical-ontologies [letzter Zugriff: 03.09.2017].  

• Gerard de Vries (1995), Should We Send Collins and Latour to Dayton, Ohio? in: EASST Review 14, S. 3-10, online-Version unter https://www.diigo.com/item/image/5o89/k31j?size=o [letzter Zugriff: 03.09.2017].